
Nicole Lubart unterrichtet erstmals für einen Tag Yoga. Bildnachweis: Mirjam Münger.
«Jetzt haben wir unsere Bäuche gefüllt und eigentlich ist das ein ungünstiger Zeitpunkt für die Übungen», mit diesen Gebärden beginnt Nicole Lubart den Unterricht nach der Mittagspause. Vor ihr sitzen in einem Halbkreis sechs Teilnehmerinnen und zwei Leiterinnen der Grundausbildung in Hatha-Yoga, jede auf einer einfarbigen oder gemusterten Matte. Deshalb würde sie mit den leichten Übungen anfangen, danach zu den anstrengenden und zum Ashtanga-Yoga übergehen, sagt Lubart im Kniesitz auf ihrer Matte in Hellbraunorange. «Wir kommen dann ins Schwitzen», versichert sie.
Daraufhin schwingt sich die 44-Jährige in die Bauchlage, hebt ihren Oberkörper leicht an und erklärt von dieser Position aus in Deutschschweizer Gebärdensprache DSGS: «Spannt eure Bauchmuskeln an und hebt ein Bein hoch.» Die Sitzenden folgen ihr und legen sich auf den Bauch.
Lubart, selber gehörlos, ist Englisch-, Sport- und Gebärdensprachlehrerin sowie Co-Leiterin des Studiengangs Gebärdensprachlehrer:in. Heute unterrichtet sie erstmals für einen Tag Yoga. Als Gastreferentin in der einjährigen Grundausbildung für gehörlose und schwerhörige Teilnehmer:innen, den Karin Arquisch und Corinne Leemann aufgebaut haben und zum zweiten Mal durchführen. Da Lubart den Unterricht gestaltet, halten sich die Leiterinnen im Hintergrund und unterstützen bei Bedarf, etwa beim Antworten auf eine Frage.
«Endlich, in Gebärdensprache, konnte ich Yoga in der Tiefe verstehen.»
«Achtet bei dieser Position darauf, dass ihr eure Wirbelsäule gerade haltet. Oft neigen wir dazu, sie seitlich nach links oder rechts zu krümmen», leitet Lubart bei einer anderen Übung an. Noch während sie dies gebärdet, löst sie ihre Füsse von ihrer Matte und streckt ihre Beine, so dass sie über dem Boden schweben. Dabei bewegt sie sich mit der Gleichmässigkeit eines Flusses.
Jahre des Übens liegen hinter Lubart. Zum Yoga kam die Lehrerin, nachdem körperliche Schmerzen sie in ihrem Alltag beeinträchtigten. «Die Therapien und Medikamente wirkten bei mir nicht auf Dauer», erinnert sie sich. Zuerst habe sie versucht, Yoga mit Youtube und Untertiteln zu lernen. Aber so habe sie nicht wirklich in diesen Übungsweg eintauchen können. Als sie die online Yoga-Kurse in Amerikanischer Gebärdensprache ASL entdeckte, belegte sie diese, auch da sie diese Sprache bereits fliessend beherrschte. «Endlich, in Gebärdensprache, konnte ich Yoga in der Tiefe verstehen», sagt Lubart.

Teilnehmerinnen in der sitzenden Vorwärtsbeuge (Paschimottanasana). Bildnachweis: Mirjam Münger.
Danach absolvierte sie von 2022 bis 2023 die schweizweit erste Grundausbildung mit über 200 Stunden für Menschen mit Gebärdensprache. «Mit Yoga habe ich Schritt für Schritt eine bessere Balance für meinen Körper entwickeln können - weg von der Leistungsorientierung», fügt Lubart an.
Draussen dröhnt ein Tram vorbei. Autos und Motorräder brummen durch das Labyrinth Zürich Oerlikons. Geschäfts- und Wohnhäuser drängen sich aneinander. Mittendrinnen, in einem dieser Gebäude, im zweiten Stock, gleitet die Yoga-Gruppe von einer Asana, meditativ ausgeführten Körperstellung, zur nächsten. Immer wieder bringt ein Lüftchen Frische durch die offenen Fenster.
«Führt diese Stellung mit fünf Atemzügen aus», weist Lubart an. Die Sitzenden strecken ein Bein und fassen mit der Hand die Zehen. Dabei schliessen sie die Augen und atmen ein und aus. Währenddessen richtet sich Lubart von ihrer Matte auf und bewegt sich so geschmeidig wie ein Grashalm im Wind durch die Reihe.
«Mit Yoga habe ich Schritt für Schritt eine bessere Balance für meinen Körper entwickeln können – weg von der Leistungsorientierung.»
Mit ihren Blicken prüft sie die Körperhaltungen, die besondere Aufmerksamkeit brauchen. Zu einer Übenden beugt sie sich auf Augenhöhe, legt ihre Hand auf ihren Oberarm. Diese öffnet ihre Augen. Anschliessend gebärdet Lubart ihr einen Tipp. Danach kehrt sie zu ihrer Matte zurück und wartet, die Ruhe in Person.
Eine nach der anderen endet die Übung und wechselt in die Sitzposition. Acht Augenpaare beobachten Lubart, als sie die nächste Übung erklärt - in einem Kreis von Personen, die seit einem halben Jahr gemeinsam unterwegs und einander vertraut geworden sind. Auch haben sie sich eingespielt, in den Abläufen des Innehaltens, Wartens und gemeinsamen Übens. Nach Yogi-Art: bei sich und den anderen sein.
«Hörende lassen sich gerne von einer Stimme führen», äussert sich Ramona Loop in Gebärdensprache, die Einzige unter den Teilnehmerinnen, die hört. Doch für sie treffe das nicht zu. Darum sei es für sie perfekt, dass alles visuell vermittelt werde. «Auf diese Weise kann ich besser in mich 'hineinspüren', ohne von einer Stimme gestört zu werden.» Ihre Atmung etwa habe einen anderen Rhythmus als den, den eine Stimme vorgeben würde. Loop habe sich gefreut, dass die Yoga-Ausbildung nicht ausgebucht war, und sie daher einen Platz bekommen konnte.
«Auf diese Weise kann ich besser in mich ‹hineinspüren›, ohne von einer Stimme gestört zu werden.»
Um an der Hatha-Grundausbildung teilzunehmen, nimmt Laura Polster einen Weg von Deutschland nach Zürich auf sich, der rund sechs Stunden dauert. «Ich bin so froh, dass ich in dieser Ausbildung dabei bin! Viele von uns spüren sich in der schnelllebigen Gesellschaft kaum noch. Yoga hilft, sich und andere wieder mehr wahrzunehmen und wertzuschätzen.»
Zwar gebe es in Berlin eine taube Lehrerin, die Yoga-Workshops anbiete, fährt Polster fort. «Aber ich wollte tiefer in die Yoga-Praxis und -Philosophie eintauchen.» Genau das werde in der Grundausbildung vermittelt. Eine vergleichbare Möglichkeit für taube Personen gebe es derzeit in Deutschland nicht.
Alle stehen bereit: Lubart hat die Theorie von Ashtanga-Yoga erläutert, einer Yoga-Richtung, bei der die Körperstellungen, die Atmung und das Meditieren miteinander verbunden werden. Zudem hat sich die Gruppe die Abfolge des Sonnengrusses bereits eingeprägt. Jetzt wird sie ihn acht Mal durchlaufen. Lubart macht den Auftakt und visualisiert mit einer Hand die Atemzüge. Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen.
Im Einklang fliesst die Gemeinschaft von einer Haltung in die nächste, im Rhythmus mit dem Ein- und Ausatmen. Für einen Augenblick fällt eine Teilnehmerin aus der Reihe. Im nächsten verschmelzen ihre Bewegungen wieder mit denen der Yoga-Familie. Die Schwingungen ihrer Körper wirken für die Augen wie ein Gedicht, das in sich reimt. Am Ende der Durchgänge schwebt der süsse Geruch des Schweisses im Übungsraum. Doch nicht für lange, weil ein frischer Luftzug ihn wegträgt.
«Viele von uns spüren sich in der schnelllebigen Gesellschaft kaum noch. Yoga hilft, sich und andere wieder mehr wahrzunehmen und wertzuschätzen.»
Im letzten Teil des Yoga-Unterrichts legen sich alle für Shavasana auf die Matte. Corinne Leemann, eine der Leiterinnen, dimmt das Licht des Yoga-Raumes. Jenes, das zuvor die Fragen und Anregungen in Gebärdensprache erhellt hat. Im Dämmerlicht senkt sich Ruhe über die Liegenden.
Ein Innehalten und Sich-Spüren in dieser Oase der Vertrautheit. Dann erhebt sich Lubart, nimmt einen Fächer in ihre Hand und fächert ihn zu einem Halbmond auf. Damit geht sie im Halbkreis umher und wedelt den Liegenden einen Lufthauch zu. Eine nach der anderen reckt, streckt und richtet sich auf. Zum Abschluss falten alle die Handflächen vor dem Brustbein und danken einander fürs gemeinsame Üben. Namaste!
«Es hat mir Spass gemacht, Yoga zu unterrichten. Das würde ich gerne wieder machen», lächelt Lubart.
Grundausbildung in Hatha-Yoga für gehörlose und schwerhörige Menschen
Der Lehrplan und die Inhalte der über 200-stündigen Ausbildung orientieren sich an klassischen Yoga-Ausbildungen. Zugleich sind sie barrierefrei für gehörlose Teilnehmende gestaltet, indem die Abläufe der Atem-, Entspannungs- und Körperübungen angepasst sind und die Deutschschweizer Gebärdensprache DSGS als Unterrichtssprache dient.
Aktuell läuft die zweite Ausbildung bis November 2025 und die nächste beginnt im November 2026. In Planung ist, sie inklusiv - in Laut- und Gebärdensprache - anzubieten, damit auch gehörlose und schwerhörige Interessierte ohne oder mit minimalen Gebärdensprachkenntnissen teilnehmen können.
Informationen zu dieser Yoga-Grundausbildung sind beim Verein Yoga in Gebärdensprache YIGS erhältlich. Dieser Verein fördert Aus- und Weiterbildungen sowie Projekte für gehörlose und schwerhörige Menschen in den Bereichen Yoga, Gesundheit und Prävention. Dabei stellt er den Zugang zu Yoga für Gebärdensprachnutzende sicher.
www.yigs.ch