
Anna W. wurde aufgrund ihrer psychischen Erkrankung ein Aufhebungsvertrag vorgesetzt. Bildnachweis: Recraft.ai (2025), erstellt mit KI, generiert von Nicole Haas am 09. April 2025.
Eines möchte ich zu Beginn klarstellen: Ich bin nicht generell gegen Outings. Ich würde mich sehr gerne mit meinem richtigen Namen und meiner Diagnose outen. Weil ich mittlerweile seit vielen Jahren und ohne grössere Ausfälle im Sozialen Bereich arbeite. Weil ich weiss, dass ich meinen Job gut mache und mir in meinem Fachbereich einen guten Ruf erarbeitet habe. Gerne würde ich junge Berufsleute, welche ähnliche Themen haben, bestärken oder auch einige meiner Learnings mitgeben. Oder offen dazu stehen, dass ich mein Wissen über Psychosen durch meine eigene Erfahrung gesammelt habe.
Wäre da nicht dieser Satz, der sich kurz nach meinem Studium tief in meiner Seele eingebrannt hat. Ich hatte damals meine erste Stelle nach dem Studium und war in einer neu eröffneten Wohn-Abteilung eines bekannten Grossunternehmens tätig. Eigentlich war es nie mein Ziel gewesen, psychiatrienah zu arbeiten. Es zeigte sich aber bald, dass die jungen Klient:innen, mit welchen Arbeitsintegration angedacht war, psychisch sehr viel labiler waren als vom Konzept berücksichtigt. Alle Mitarbeitenden waren dadurch stark gefordert, viele wurden krank und fielen aus. Ich war ein Jahr lang eine geschätzte Mitarbeiterin, die wenn nötig einsprang.
«Ich war ein Jahr lang eine geschätzte Mitarbeiterin, die wenn nötig einsprang.»
Aber dann passierte es: Während eines Lagers der Wohngruppe geriet mein Schlafrhythmus durcheinander, ich begann, mich merkwürdig zu verhalten, wurde akut psychotisch. Jedem fiel auf, dass etwas nicht stimmte. Ich verstehe, dass das für meinen Vorgesetzten sehr unangenehm war. Nach einer kurzen Auszeit wurde ich zu einem Gespräch mit dem Leiter der Wohngruppe und dem nächsthöheren Vorgesetzten gebeten. Da fiel der Satz: «Wenn ich gewusst hätte, dass du psychisch krank bist, hätte ich dich nicht angestellt.» Der Leiter der Gruppe weigerte sich, mich weiter zu beschäftigen. Die beiden unterbreiteten mir einen Aufhebungsvertrag, den ich annahm. Ich musste den Arbeitsort verlassen, ohne mich vom Team verabschieden zu können.
Das Erlebnis hat mich geprägt. Ich war erschüttert: Ein Betrieb, der junge psychisch kranke Menschen in den Arbeitsmarkt integriert, will selbst keine Mitarbeitende, die psychisch erkrankt sind? Ich zweifelte aber auch an mir: Bin ich wirklich in der Lage, sozialpädagogisch zu arbeiten? Oder muss ich mir eingestehen, dass ich dafür einfach zu krank bin? Am nächsten Arbeitsort – ich arbeitete nun mit Menschen mit kognitiven und körperlichen Behinderungen - lief es deutlich besser. Aber ich war sehr still, in mich gekehrt und wenig sichtbar für meine Teammitglieder, eine Folge der schlechten Erfahrung.
«Nach einer kurzen Auszeit wurde ich zu einem Gespräch mit dem Leiter der Wohngruppe und dem nächsthöheren Vorgesetzten gebeten.»
Nach einigen Jahren nahm ich mir eine Auszeit, ging auf eine Reise und erlitt im Ausland erneut eine Psychose. Wieder zweifelte ich an meinem Berufsfeld, obwohl diesmal nicht die Arbeit Auslöser der Krise gewesen war, sondern die zahlreichen Reize und die fehlende Struktur während der Reise. Ich war daraufhin in der Schweiz längere Zeit in Behandlung und stand mehrere Monate lang kurz vor einer Umschulung mit der Invalidenversicherung. Dann sah ich das Inserat meines aktuellen Arbeitgebers. Und wurde prompt eingestellt. Dort arbeite ich nun seit über 10 Jahren.
«Ich musste den Arbeitsort verlassen, ohne mich vom Team verabschieden zu können.»
Ich habe aus dem Vorfall in meinem ersten Job nach dem Studium einiges gelernt: Ich habe seither nie mehr im Bereich Psychiatrie gearbeitet. Die akuten psychischen Krisen von Klient:innen belasten mich zu sehr. Regelmässige Ess- und Schlafenszeiten sind für mich grundlegend. Ich bin dankbar, dass ich nun Büroarbeitszeiten habe.
Die Stabilität, die ich nun seit vielen Jahren habe, hat mir persönlich viel ermöglicht. Ich habe mich beruflich festigen können, mein Selbstwert ist dadurch deutlich gestiegen. Heute bin ich überzeugt: Ja, ich kann sozialpädagogisch arbeiten. Und nicht nur das: Ich bin mit meinem nicht geradlinigen Lebenslauf ein wichtiger Teil des Teams. Dennoch werde ich im beruflichen Umfeld nie wieder freiwillig meine Diagnose offenbaren.
*Der Redaktion ist der richtige Name von Anna W. bekannt.