
Der Europäischen Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen fand am Samstag, 3. Mai 2025 zum ersten Mal auch in der Schweiz statt. Bildnachweis: Marc Taudien.
Selbstvertreter:innen samt der Wohnstätte Zwyssig und dem Verein inclusion360 sowie Vertreter:innen der Inklusionsinitiative lassen sich vom wechselhaften Wetter nicht aufhalten: rund 600 Menschen versammeln sich auf dem Platz. Während zweieinhalb Stunden werden über 30 Reden gehalten und offizielle Forderungen auf städtischer, kantonaler und nationaler Ebene verlautet.
Am Ende des Protesttags werden diese an die städtische Beauftragte für Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen Flavia Frei und den Nationalrat Philipp Kutter übergeben. Politisch ist das ein perfektes Timing, denn am Montag, dem 5. Mai begann die Sondersession des Nationalrats, bei welcher unter anderem über die politischen Rechte für Menschen mit Behinderungen debattiert wurde. Umso auffallender ist die Abwesenheit von parlamentarischen Politiker:innen: bis auf ein paar wenige Ausnahmen sind sie an der Kundgebung nicht anzutreffen.
Die Notwendigkeit von Bündnissen
Mitten auf dem Platz treffe ich Edwin, Co-Geschäftsleitung des Netzwerks Avanti. Edwin erzählt mir, dass es wichtig sei, ein politisches Zeichen zu setzen. Genau in Zeiten politischer und sozialer Rückschritte sei das umso bedeutsamer: «Wir müssen für alle einstehen, auch wenn nicht alle die gleichen Bedürfnisse haben. Hierfür müssen Behinderungen anerkannt werden. Besonders Menschen ohne Behinderungen können von Menschen mit Behinderungen lernen, auch wenn dieser Austausch in unserer leistungsorientierten Gesellschaft erschwert wird.»
«Wir sind heute hier, obwohl wir müde sind, immer das Gleiche zu fordern.»
Namila, die andere Hälfte der Geschäftsleitung von Avanti, ergänzt: «Wir müssen dranbleiben. Und zwar laut, sichtbar und solidarisch!». Dabei vergleicht Namila den Protesttag mit dem 1. Mai; «Denn auch am 1. Mai werden jährlich dieselben Grundforderungen gestellt, weil sich das System nicht von sich aus verändert». Für mehr politisches Gewicht sei es dabei zentral, dass sich die Kämpfer:innen untereinander mehr verbünden.
Ein Anliegen, das sich auch die Behindertenbewegung noch stärker zu Herzen nehmen könnte. Zwar versucht sie parteiübergreifend zu politisieren und kompromissfähig zu wirken, verpasst dabei aber teilweise, sich zu weiteren Menschenrechtsanliegen – wie Klassenfragen, Rassismus, Krieg oder geschlechtsspezifischer Gewalt – ausreichend zu positionieren. Dabei hätte das «MaisOui»-Festival zum 1. Mai auf dem Kasernenareal gleich in der Nähe eine ideale Gelegenheit geboten, mehr intersektionale Bündnisse zu schliessen.

Rund 600 Menschen haben sich auf dem Helvetiaplatz in Zürich zusammengefunden. Bildnachweis: Marc Taudien.
«Nicht über uns ohne uns»
Auf parlamentarischer Ebene wird im politischen Diskurs zum Thema Inklusion viel von idealisierten Zukunftsvisionen und «Wohlfühlgelaber» gesprochen. Viele Redner:innen weisen darauf hin, dass dies mehrheitlich auf Kosten einer ernsthaften und dringend notwendigen Auseinandersetzung mit den realen Barrieren der Gegenwart passiere.
Als Beispiel hierfür nennt Saphir Ben Dakon den sogenannten «Inspiration Porn»: Menschen mit Behinderungen werden dabei durch andere (mit oder ohne Behinderungen) instrumentalisiert oder benutzt, damit sich – meist nichtbehinderte Menschen – im Vergleich zu ihren eigenen Lebensumständen besser oder motivierter fühlen. «Inspiration Porn» veranschauliche dabei, wie Menschen auf ihre Behinderungen reduziert und echte Barrieren und Diskriminierungen verharmlost werden. Zudem suggeriere solch ein Framing, dass «man sich nur genügend anstrengen müsse und es dann schon funktionieren würde» und nimmt das ableistische Denken dahinter in Schutz. Dieses führe auch dazu, Menschen als «wertvoll» beziehungsweise «wertlos», «beschützenswert» oder «nützlich» zu klassifizieren.
«Wir müssen dranbleiben. Und zwar laut, sichtbar und solidarisch!»
Hier führt Saphir aus, dass Menschen mit Behinderungen als Expert:innen ihres eigenen Lebens gezeigt werden sollten – mit ihren Meinungen, Rechten und Erfahrungen – nicht als «einzigartige Held:innen» oder «bemitleidenswerte Opfer», sondern einfach als Teil der Gesellschaft.
Wer ist heute (nicht) hier?
«Wir sind heute hier, obwohl wir müde sind, immer das Gleiche zu fordern», sagt Saphir Ben Dakon während ihrer Rede auf der Bühne. Auch Sina Eggimann äussert sich öffentlich dazu: «Ich bin müde von den täglichen Barrieren im Alltag.» Jeden Tag gegen das behindertenfeindliche System zu kämpfen koste Kraft und Zeit – Ressourcen, die für die dringend notwendige politische Mobilisierung dann oft fehlten.
«Behindertenrechte sind Menschenrechte. ‹Was mir zusteht ist kein Luxus, sondern eine grundlegende Notwendigkeit›.»
Besonders stark zu spüren bekommen das Menschen, die von einer Mehrfachdiskriminierung betroffen sind. Beispielsweise queere Schwarze Personen mit Behinderungen, die bei Kundgebungen wie dieser weiterhin in der Minderheit bleiben. So konnten manche Menschen mit Behinderungen aufgrund sozialer oder finanzieller Barrieren nicht am Protesttag teilnehmen, was besonders marginalisierte Stimmen noch stärker ausschliesst.
Die Mehrheit der an der Kundgebung anwesenden Personen kennen sich bereits von früheren Kundgebungen oder politischen Mobilisierungen. Vertraute Gesichter der Behindertenbewegung sind zu sehen. Dies regt auch zum Nachdenken an: denn die Menschen, die sich öffentlich für Behindertenrechte einsetzen, sind noch immer wenige oder bleiben häufig unsichtbar. Wie kann die ganze Bewegung also neue Verbündete dazugewinnen?
Was aber hoffen lässt, ist die grosse Anzahl an anwesenden FINTA*-Personen. Egal ob auf der Bühne, im Care-Team oder im Publikum – FINTA Personen sind vor Ort. Deren Sichtbarkeit bedeutet Mut, denn sie zeigen sich und nehmen Platz ein. Die Solidarität untereinander ist stark zu spüren und Mira Fischbacher bringt dies in ihrer Rede auf den Punkt: «Wahre Inklusion beginnt dort, wo niemand mehr unsichtbar ist».

In den zweieinhalb Stunden wurden über 30 Reden gehalten und Forderungen auf städtischer, nationaler und kantonaler Ebene verlautet. Bildnachweis: Marc Taudien.
Dieser Protesttag unterstreicht die Dringlichkeit der Forderungen. Besonders jene nach mehr intersektionalem und feministischem Denken innerhalb der Behindertenbewegung – und auch im Inklusionsdiskurs.
Es braucht deshalb mehr als nur gute Absichten und Einzelbeispiele. Behindertenrechte sind Menschenrechte. «Was mir zusteht ist kein Luxus, sondern eine grundlegende Notwendigkeit» schallt Pinar Şanas Stimme über den Helvetiaplatz. Die Schweiz ist seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention 2014 dazu verpflichtet, zu einer inklusiven Gesellschaft beizutragen und trotzdem hat sich noch immer zu wenig verändert.
Inclusion Handicap belegte dies 2022 mit ihrem Schattenbericht der aufzeigt, wie die Schweiz systematisch die Rechte von Menschen mit Behinderungen verletzt. So fragt Saphir Ben Dakon am Ende ihrer Rede, ob sie der Gesellschaft dankbar sein soll, dass sie am Leben sei. Prompt antwortet sie: «Gut, dann fordere ich genau dies. Ein Leben, in dem wir unsere Würde und Rechte nicht ständig verteidigen müssen. Ein gleichgestelltes Leben und die volle Teilhabe an der Gesellschaft.»
An diesem Tag wird klar: Zur echten Inklusion ist es noch ein langer Weg. Dieser Weg ist aber keine Utopie, es braucht lediglich mehr politischen Willen, um gesetzliche Rahmenbedingungen und eine konsequente Umsetzung auf allen Ebenen zu gewährleisten. Auf dem Helvetiaplatz ist man sich dabei einig: Die Ratifizierung des Fakultativprotokolls zur UN-Behindertenrechtskonvention steht ganz oben auf der Liste.
*Die Abkürzung FINTA steht für Frauen, intergeschlechtliche, nichtbinäre, trans- und agender Personen. Diese Abkürzung wird bewusst gewählt, um von der binären Kategorisierung «Mann/Frau» wegzukommen und die Sichtbarkeit von FINTA-Personen zu verstärken.
Das sind die Forderungen des Protesttages
Ratifizierung des Fakultativprotokolls zur UN-Behindertenrechtskonvention: Einbezug von Menschen mit Behinderungen in der Planung, Umsetzung und Evaluation sämtlicher Forderungen
Barrierefreiheit jeglicher öffentlicher Gebäude bspw. Schulen, Asylzentren, Frauenhäuser, etc. und öffentlicher Transportmittel
Zugang zu Bildung und finanziellen Ressourcen
Recht auf erfüllende und wertgeschätzte Arbeit
Stimm- und Wahlrecht für Menschen unter Beistandschaft, samt struktureller Anpassungen, damit Betroffene ihr Stimm- und Wahlrecht tatsächlich ausüben können
Jede Person entscheidet selbstbestimmt, wie, wo und mit wem sie leben möchte